Jens Spahns Sprachgebrauch macht aus der Brandmauer eine Rutsche nach Rechtsaußen – ein eklatante Gefahr für unsere Demokratie
Am 24. Mai erschien ein Interview von Jens Spahn mit der RND-Chefredakteurin Eva Quadbeck und der stellv. Leiterin des RND-Hauptstadtbüros in der Badischen Zeitung. Es beleuchtet einmal mehr, welche Bedeutung der Sprachgebrauch (zu deutsch: das wording) hat.
Jens Spahn nennt drei Indikatoren für den Politikwechsel: „In Europa wird durch Kanzler Merz wieder Führung aus Deutschland sichtbar. Alexander Dobrindt hat mit der Grenzsicherung vom ersten Tag an die Migrationswende eingeleitet Er ist jetzt Deutschlands schwarzer Sheriff. Und drittens: Das Vertrauen der Investoren kehrt zurück, wie man am Dax sehen kann. Er ist seit Ende der Koalitionsverhandlungen um 20 Prozent gestiegen. Das ist ein Plus von etwa 500 Milliarden Euro.“
Die Rede von ‚Führung aus Deutschland‘ für die bildträchtigen Antrittsbesuche des Kanzlers vor erkennbaren politischen Taten mag ja noch als Werbung pro domo durchgehen. Und die volatile Bewegung der Aktienkurse als Zeichen für die Rückkehr des Vertrauens der Investoren ist zwar wirtschaftlich betrachtet, völlig unbegründet, aber nicht schädlich. Was Spahn jedoch zur sog. Migrationswende sagt, ist brandgefährlich und bedient rechtsextreme Narrative. Mit der Rede von Dobrindt als schwarzem Sheriff spielt er auf den Nimbus der Großmächtigkeit aus Wildwestzeiten mit lockerem Colt an. Robust und ohne sichere rechtliche Deckung ist ja auch das derzeitige Vorgehen an deutschen Grenzen, das mit dem hässlichen Wort „Migrationswende“ bezeichnet wird.
Dann spricht er davon, dass der ‚massive Aufwuchs des Bürgergeldes begrenzt‘ werden müsse. Schaut man sich die Zahlen an, so kann davon überhaupt nicht die Rede sein. Laut ‚Statista Research Departement‘ war die Zahl der ALG II-Empfänger/Bürgergeld-Empfänger zwischen 2005 und 2018 (Spanne: 5,37 Millionen – 4,14 Millionen) höher als 2024 mit 3,99 Millionen. Davon lag die Zahl der arbeitslos Erwerbsfähigen mit 1,75 Millionen zwischen 2007 und 2016 höher als im Jahr 2024.
In diskriminierender Weise werden dann verschiedene Themenbereiche und Betroffene miteinander vermischt. Spahn: „Zentral ist aber das Prinzip: Wer arbeiten kann, sollte arbeiten oder seinen Leistungsanspruch verlieren. Die Bevölkerung wird es auf Dauer auch nicht akzeptieren, dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund und mit einer erst kurzen Aufenthaltsdauer in Deutschland beim Bürgergeld stetig steigt.“ Hier wird die Bevölkerung zum Wald gemacht, aus dem es – so offensichtlich seine Erwartung – so herausschallt, wie er hineingerufen hat. Spahn kontaminiert sprachlich ‚Bürgergeldempfänger‘ mit ‚nicht Arbeitswillige‘, mit ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ und ‚mit Menschen mit einer erst kurzen Aufenthaltsdauer in Deutschland.‘, die eine Lawine beim Bürgergeld auslösen. Was soll da der Bevölkerung untergeschoben werden? Bürgergeldempfänger sind arbeitsscheu, sind es Menschen mit Migrationshintergrund (immerhin 25% unserer Bevölkerung)? Und was soll der Verweis auf die kurze Aufenthaltsdauer? Asylsuchende und Flüchtlinge (so heißen die Menschen in Not) müssen ja erst ihre Verfahren abwarten, deutsch lernen und dürfen noch gar nicht arbeiten. Und die Aussage, dass der „Anteil“ dieser Menschen „beim Bürgergeld stetig steigt“, leugnet den Rückgang der Zahl der Asylbewerber und die Zahlen der Bürgergeldstatistik. Mit der Verknüpfung von Migration mit Bürgergeld wird der Anschein erweckt, dass Migranten uns quasi die Butter vom Brot wegnehmen. Das hat mit den tatsächlichen Problemen mancherorts nichts zu tun. Dort fehlen strukturelle und personelle Mittel für die Integration von Geflüchteten und Asylanten.
Und hinsichtlich dieser eigens von ihm konstruierten ‚bedrohlichen‘ Szenerie warnt Spahn: „Das ist sozialer Sprengstoff. Wir wollen gesellschaftlichen Frieden herstellen.“ Erschreckend, wie Spahn sich hier mit der Verbreitung von narrativem Sprengstoff als Friedensstifter ausgeben möchte.
Und weiter wird Propaganda gemacht: „Eine breite Mitte hat es satt, das wir nicht wissen, wer warum unser Land betritt, und dass jeder ab Tag eins Sozialleistungsanspruch hat. Dafür gibt es keine Akzeptanz.“ Der „breiten Mitte“ (wer oder was ist das?) wird unterschoben es satt zu haben, dass die Aufenthaltsberechtigung erst rechtsstaatlich überprüft werden muss und dass sie keine Akzeptanz dafür hat, dass man Asylsuchende solange nicht verhungern lässt, oder was soll diese Aussage? Hier werden Flüchtlinge und Asylsuchende, Menschen in Not, in die Nähe von unliebsamen Kostgängern und Schmarotzern unseres Sozialsystems gerückt. Derartige Formulierungen schleifen die sprachliche Abgrenzung zur AfD. Die ständige Verbreitung dieser Denkungsart und solcher Sprachgewohnheiten gefährdet unsere Demokratie.
Mit Bedenkenlosigkeit und Mitleidlosigkeit wird über Menschen gesprochen mit oft traumatischen Erfahrungen und tragischen Schicksalen: „Deshalb gibt es seit Tag eins unserer Regierung eine Migrations- und Asylwende. Auch Asylsuchende werden zurückgewiesen an den deutschen Grenzen. Wir werden den Familiennachzug aussetzen, die Turboeinbürgerung beenden. Und ich kann sagen, eine große Mehrheit der Deutschen ist sehr zufrieden mit den vergangenen zwei Wochen.“ Mit Selbstzufriedenheit und falschem Stolz, sich als Erfüllungsorgan einer wie auch immer festgestellten Mehrheit der Deutschen darstellend, wird hier über die Abschaffung von sinnvollen und humanitären Regelungen wie dem Familiennachzug gesprochen. Die an Kriterien gebundene Einbürgerungsmöglichkeit nach 3 Jahren statt wie zuvor nach 5 Jahren mit dem Wort ‚Turbo‘ zu belegen, dient offensichtlich dazu, die bisherige Regelung und ihre guten Gründe in Misskredit zu bringen. Auf jeden Fall tragen derartige Reden dazu bei, ablehnende Haltungen gegen Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende in der Bevölkerung zu nähren.
Schließlich spricht Spahn über die Ziele: „Die Zielgröße für (illegale und irreguläre Migranten) ist natürlich null. Die absolute Zahl ist von 350.00 auf 250.000 Migranten binnen eines Jahres gesunken. Aber die Zahl ist immer noch viel zu groß... Illegale Migration weitestgehend beenden – das ist das Ziel.“ Zunächst werden hier Migranten, d.h. Menschen, als illegal oder irregulär bezeichnet. Als quasi widerrechtlich gekennzeichnet scheinen dann Fragen der Mitmenschlichkeit, der Menschenwürde, der Hintergründe sich zu erübrigen. Migranten sind nur als Zählgröße von Interesse, die möglichst auf Null runtergedrückt werden soll.
Kein Raum für Zweifel, für Fragen, für das Bewusstsein eines Dilemmas. Bei ohnehin abnehmendem Migrationsdruck wird hier dieses Thema zu höchster politischer Priorität hochstilisiert, hinter der andere existentielle Politikfelder wie vor allem die Transformation zur Eindämmung der Klimakatastrophe zu verschwinden drohen. Derartige Ablenkung von eigentlich prioritär erforderlichen Aufgaben auf ‚Feindbilder‘ ist ein Kennzeichen autoritärer Regime. So wurde die Themensetzung ‚Bekämpfung der Migration‘ von Rechtsextremen übernommen, so wird das Thema versehen mit dem Sprachgebrauch demokratischer Parteien ihnen wieder zurückgespielt zur wohlfeilen Nutzung in deren Propagandakanälen. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis der Irreführung der Bevölkerung, die irgendwann dann auch die Mehrheiten bei Meinungsumfragen und damit die Rechtfertigung für die Politik liefert.
Das von Spahn propagierten Ziel einer Senkung auf Null ist auch politisch eine Steilvorlage für die AfD: Da die Regierung an diesem Vorhaben absehbar scheitern wird, können die Rechtsextremen mit Rückgriff auf dieselbe Wortwahl sich als diejenigen präsentieren, die das für die ‚Mehrheit der Deutschen‘, ‚die es satt haben‘, durchführen – und dafür ein Aussetzen rechtsstaatlicher Mittel rechtfertigen.