Neues über Kriege
Die folgenden Ausführungen sind Zusammenfassungen aus einigen Kapiteln von Rutger Bregmans lesenswertem Buch „Im Grunde gut - eine neue Geschichte der Menschheit“. Es ist lohnend, aus den hier dargestellten Tatsachen Folgerungen zu ziehen. Die meisten Menschen verfallen selbst in absolut lebensbedrohlichen Lebenssituationen nicht in einen Zustand rücksichtsloser Selbstrettung, sondern sind noch in der Lage, das Beste an menschlichen Handeln und Verhalten zu zeigen. Dass ein negatives Bild vom Menschen immer wieder von Politikern und Medien verbreitet wird, sollte zu denken geben.
Zerstören Bomben in der Bevölkerung die dünne Schicht der Zivilisation?
In seinem von vielen gelesenen Buch ‚Psychologie der Massen‘ (1895) erklärt der Autor Gustave Le Bon, was in Ausnahmesituationen vor sich geht: „Fast unmittelbar falle der Mensch mehrere Stufen der Leiter der Zivilisation herab. Dann griffen Panik und Gewalt um sich. Schließlich offenbare sich unsere wahre Natur.“
Hitler hatte das Buch gelesen wie auch Mussolini, Stalin, Churchill und Roosevelt. Hitler befahl Oktober 1939 den gnadenlosen Einsatz der Luftwaffe, um den britischen Widerstandswillen zu brechen. Am 7. September1940 überquerten 348 deutsche Bomber den Kanal. Die Briten waren weder durch Luftabwehr noch durch Bunker darauf vorbereitet. Doch der von Le Bon postulierte Zusammenbruch der Zivilisation blieb aus. Im Gegenteil, das Leben ging weiter und typisch war, wie manche mit Humor reagierten: Geschäfte reagierten auf die Zerstörung: ‚Weiter geöffnet als sonst.“ oder ein Pub: „Unsere Fenster sind hinüber, aber unser Geist ist nicht gebrochen, Kommt rein und überzeugt Euch selbst.“
Trotz dieser Erfahrung setzten sich in der Royal Air force letztlich die Stimmen durch, die davon ausgingen, das der Luftkrieg die Moral der Bevölkerung Deutschlands schwächen könne und Chaos provozieren würde. Es wurde faktenwidrig ‚die Forschung‘ zitiert, dass die Zerstörung seines Hauses noch schädlicher für den Menschen sei als der Verlust von Angehörigen. Der Angriff von 58 wichtigsten deutschen Städten könne zweifellos den Willen des deutschen Volkes brechen. So wurde nur ein kleiner Teil der alliierten Luftwaffe eingesetzt, um strategische Ziele wie Fabriken und Brücken zu bombardieren - in der irrigen Annahme, dass man nichts besseres tun könne, als Bomben auf Zivilisten zu werfen. Tatsächlich kam es nicht zu einer Massenpanik sondern zu gegenseitiger Hilfe, es wurde Verwundeten und Obdachlosen geholfen. Wissenschaftler kamen später zu dem Urteil: Die Bombardements seien ein Fiasko gewesen.
Die von Le Bon unterstellte dünne Schicht über der menschlichen Zivilisation erwies sich als irrige Vorstellung der Militärstrategen und Kriegskabinette. Doch es wurde gegen diese Erkenntnis auch danach unvermindert weiter gebombt. Über Vietnam warfen die Amerikaner dreimal soviel Bomben wie auf Nazi-Deutschland.
Und ich möchte hier den Versuch von Putin anfügen, mit Dauerbeschuss ziviler Ziele die Moral der Ukrainer zu brechen. Auch das Flächenbombardement der israelischen Armee in Gaza kann hier erwähnt werden, wenn auch durch Aushungern und Vertreibung der Bevölkerung noch schlimmere Hebel angesetzt werden. Chaos und Panik werden hier künstlich durch absichtliche Schüsse auf die Menschen erzeugt, die bei der Nahrungsmittelausgabe anstehen - eine verwerfliche Eskalation der Drangsalierung der Zivilbevölkerung.
Enthemmt mordende Soldaten?
Der Oberst und Historiker Samuel Marshall war an der amerikanischen Invasion auf der japanisch besetzten Insel Makin beteiligt. Nachdem sie in der ersten Nacht einer starken Überzahl von Japanern standgehalten hatten, befragte er tags darauf die Soldaten aller Ränge und machte dabei eine sensationelle Entdeckung: Nur 15 bis 25 Prozent der Soldaten hatten geschossen, die große Mehrzahl nicht, und das trotz der besonders kritischen Lage. Zwar wurden diese Ergebnisse 12 Jahre nach Marshalls Tod der Fälschung verdächtigt, jedoch zeigte sich an anderen Beispielen, dass seine Untersuchung überall anzutreffende Realitäten von Kriegen offenbart hatte.
Während des Sizilien-Feldzugs im Jahr 1943 hatte der britische Oberstleutnant Lionel Wigram bereits festgestellt, „dass er höchstens auf ein Viertel seiner Truppen zählen könne.“ General Bernard Montgomery schrieb: „Das Problem mit unseren britischen Jungs ist, dass sie von Natur aus keine Killer sind.“ Interviews mit Veteranen des zweiten Weltkriegs ergaben, „dass mehr als die Hälfte von ihnen noch nie getötet hatten.“ „Zum Beispiel war weniger als ein Prozent der amerikanischen Jagdflieger für fast 40 Prozent der abgeschossenen Flugzeuge verantwortlich. Die meisten Piloten, so ein Historiker, hätten nicht jemanden abgeschossen oder auch nur den Versuch dazu unternommen.“
Nach der Schlacht von Gettysburg im Amerikanischen Bürgerkrieg wurden nach den Kampfhandlungen „27.574 Musketen gefunden. Aber mehr als 90 Prozent dieser Waffen waren noch geladen. … Etwa 12.000 Musketen waren doppelt geladen, die Hälfte davon mehr als dreifach. … Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Die Musketen waren darauf ausgelegt, jeweils eine Kugel abzufeuern.“ Erst später kam man dahinter, dass es eine perfekte Ausrede darstellte, um nicht zu schießen.
In den 1860er Jahren führte der französische Oberst Ardant du Picq umfangreiche Befragungen unter seinen Offizieren durch. Er kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Soldaten nicht gerne kämpften. Selbst wenn sie schossen, feuerten sie oft zu hoch. Das konnte stundenlang so gehen; zwei Armeen, die aufeinander schossen, während fast jeder nach einer Ausflucht suchte, etwas anderes zu tun (Munition holen, Waffenladen, Deckung suchen, was auch immer).
Schließlich schrieb George Orwell in seinem Klassiker über den Spanischen Bürgerkrieg: „In diesem Kriege schoss immer jeder an jedem vorbei, wenn es irgendwie menschenmöglich war.“ Laut Orwell hatten „sich die meisten Soldaten, die in der Krankenstation lagen, selbst verletzt. Zufällig.“
Von Ideologie angefeuerte Krieger?
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges waren die meisten Psychologen davon überzeugt,dass der Faktor Ideologie am stärksten die Kampfkraft einer Armee bestimmt. Man nahm an, die Deutschen seien einfach von der Nazi-Ideologie besessen gewesen, weshalb sie die wenigsten Deserteure zu verzeichnen hatten, viel härter gekämpft hatten und 50 Prozent mehr Opfer töteten. Entsprechend dieser Annahme warf man Abermillionen Flugblätter nach dem D-Day ab und erreichte damit 90 Prozent der deutschen Soldaten. Morris Janowitz erstellte zusammen mit dem Soziologen Edward Shils einen umfangreichen Fragebogen zusammen und verteilte ihn an Hunderte von Kriegsgefangenen, um die Bedeutung der Ideologie zu erfassen. Außerdem befragten sie sehr viele Gefangenen persönlich. Sie stellten fest: ihr Antrieb war nicht der Nazismus, auch nicht der Glaube an den Sieg. Die einfache Erklärung für die fast übermenschlichen Leistungen des deutschen Heeres waren: Kameradschaft, Freundschaft. Die Männer kämpften nicht für ein Tausendjähriges Reich sondern für ihre Kameraden, dies sie nicht im Stich lassen wollten. Wort eines Kriegsgefangenen: „Der Nationalsozialismus beginnt zehn Meilen hinter der Front.“ Das wurde sogar von der Generalität eingesetzt: Sie zogen ganze Divisionen zurück, damit sich mit neuen Rekruten neue Kameradschaften bilden konnten.
Dasselbe galt für die amerikanischen Soldaten: 1949 befragten Soziologen eine halbe Million Kriegsveteranen. Auch für sie waren Patriotismus oder Ideologe nicht die wichtigsten Motive.Sie kämpften für ihre Kameraden. Viele alliierte Soldaten weigerten sich befördert zu werden, um nicht Ihre Einheit verlassen zu müssen. Viele Verwundete und Kranke lehnten deshalb auch einen Urlaub ab, um nicht durch einen neuen Rekruten ersetzt zu werden. Immer wieder stieß man auf Soldaten, „die das eigene Interesse hintanstellten, weil sie fürchteten, die anderen Jungs im Stich zu lassen.“
Bregmann stellt fest: „Der Zweite Weltkrieg war ein Kampf von Millionen gewöhnlicher Menschen, angetrieben vom Besten der menschlichen Natur – Freundschaft, Loyalität, Treue -, um das größte Gemetzel in der Geschichte anzurichten.“
Völkerverständigung im ersten Weltkrieg
Im Spätsommer 1914 meldeten sich in Deutschland Freiwillige in Scharen, um als Soldaten in den Krieg zu ziehen für die Ehre von Volk und Vaterland. Bis Weihnachten 1914 waren an der 750 km langen schon festgefahrenen Front zwischen dem belgischen Flandern und der französisch-schweizerischen Grenze bereits eine Millionen Soldaten gefallen. Nach all diesem sinnlosen Abschlachten um wenige Meter Geländegewinn ereigneten sich am Heilig Abend und an den Weihnachtsfeiertagen unglaublich anrührende Dinge. Während das britische Oberkommando befürchtete, es könnte über die Feiertage ein Angriff von deutscher Seite erfolgen, geschah etwas ganz anderes.
Die britischen Soldaten sahen, wie sich an Weihnachtsbäumen Lichter entzündeten und hörten, wie ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ gesungen wurde. Da konnten die britische Seite nicht zurückstehen und stimmten ‚The First Noel‘ an. Nach einer Weile hin und her stimmten beide Seiten ein gemeinsames Weihnachtslied an. „Es war wirklich unglaublich, zwei Nationen, die dasselbe Weihnachtslied singen, mitten im Krieg“, erinnerte sich der Soldat Graham Williams. Weiter nördlich horte ein schottischer Soldat einen Deutschen rufen, ob sie etwas Tabak haben möchten. Das war der Türöffner für ausgiebige Gespräche zwischen den Frontsoldaten, so als kennte man sich schon seit Jahren. „Was für ein Schauspiel – kleine Gruppen deutscher und britischer Soldaten entlang der ganzen Front. In der Dunkelheit horten wir Gelächter und sahen die aufglimmenden Zigaretten. … Da standen wir nun, lachend und plaudernd mit Männern, die wir ein paar Stunden vorher noch versucht hatten zu töten!“ Es wurden Geschenke ausgetauscht, Witze gerissen, Gruppenfotos gemacht, Fußballspiele ausgetragen‚ als ob eine große Wiedersehensfeier stattfände.
Es wurden sogar gemeinsame Begräbnisse abgehalten für gefallene Kameraden und dabei auf englisch und deutsch ‚Der Herr ist mein Hirte‘ gesungen. Es wurden Festmahle arrangiert und Adressen ausgetauscht für Treffen nach dem Krieg. Der deutsche Leutnant Kurt Zehmisch konnte es kaum fassen: „Wie phantastische, wunderbar und merkwürdig“ schrieb er nach Hause, „dass sich dank des Fußballs und des Weihnachtsfestes … verschworene Feinde für einen Moment als Freunde zusammenfanden.“
Es widersprach in allem der heimischen Propaganda auf beiden Seiten, die die jeweils andere Seite als abscheuliche Wesen charakterisiert hatten. Es zeigt sich ein klares Muster: Je weiter weg man von der Front war, umso größer war der Hass: in den Ministerien, den Zeitungen, den Kneipen und Wohnzimmern daheim. An zwei Dritteln der britischen Front schwiegen über die Feiertage die Waffen. In den meisten Fällen ging die Initiative von den Deutschen aus. Nur wenige erwiesen sich immun gegen den Friedensvirus. Einer davon war der 25jährige Obergefreite Adolf Hitler, der rief: „Solche Dinge gehören sich nicht in Kriegszeiten!“