Wunder des Alltags und wissenschaftlich erschlossene Wunderwelt
Sich uns darbietende Naturwunder
Mit einem Zitat aus Hartmut Rosas Buch ‚Unverfügbarkeit‘ lässt sich die Einstellung beschreiben, mit der man Zugang zu den Wundern des Alltags finden kann: „Subjekte sind stets in der Welt oder ‚zur Welt‘; sie finden sich immer schon eingelassen in, umhüllt von und bezogen auf eine Welt als Ganzes. ‚Ich erkenne meine Verwandtschaft mit allen Wesen, bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen, zu antworten‘ formuliert etwa schon Merleau-Ponty“
Auf einer Wanderung durch die Alpen war für mich ein besonderer Moment, als mir klar wurde, dass ich, dass wir Menschen mit allem Leben auf der Erde verwandt sind, mit allen Säugetieren und allen Wirbeltieren ohnehin, aber auch mit allen anderen Tiere sowie mit den Pflanzen und Pilzen; stammen wird doch von diesen ersten Zellen ab, in denen das Leben entstand und sich regte. Diese Einsicht hatte etwas Bewegendes, Bergendes. Sie kann dazu anregen, mit dem Leben um uns sorgsam umzugehen. – nicht nur Menschen, die im Gottesglauben alle Ursprünglichkeit Gottes Wort und Hand zuschreiben, sondern auch Agnostiker, die sich allein auf die Entdeckungen der Evolution und der Biologie als gesichertem Erkenntnisfundament beziehen.
1. Seit dem Beginn der Welt, seit 13,6 Milliarden Jahren, gab es noch keine Sekunde, die einer anderen glich. Eine solch schiere Unendlichkeit kann man aber auch bei der Betrachtung der Bewegungen des Wassers entdecken: bei den nie gleichen Wellen, seien sie im Fluss, auf dem See oder im Meer. Oder wenn die Wolken am Himmel, der Nebel, die unzähligen Regentropfen eine ständig wechselnde Choreographie unseren Augen und Sinnen bieten, die zum Betrachten, zum Staunen Anlass geben kann.
2. Die schier unendliche Vielzahl der Pflanzen und Tiere ist zu bewundern. Ihre Biotope, wie sie ineinandergreifen, dabei sich austarieren in Kooperation und Konkurrenz, ist bisher nur in Ansätzen verstanden. Dabei eröffnen sich Einblicke in ungeahnten Fähigkeiten der mit uns existierenden pflanzlichen und tierischen Lebewesen wahrzunehmen, zu kommunizieren und zusammenzuwirken – Realitäten, die in unserem flüchtigen Bezeichnen und Behandeln achtlos übergangen werden.
3. Schaut man beispielsweise nur die unserem Empfinden nicht so nahe stehenden Molusken an, die Schnecken und Muscheln. Welche unendlich erscheinende Vielfalt an Formen, Farben und Mustern können sie ihren Behausungen geben. Selbst die ganz Kleinen sind oft wahre Künstler der Farb- und Musterkompositionen – für menschliche Augen wunderschöne Individuen.
4. Oder betrachtet man die Farben der uns begegnenden Gegenstände und Naturerscheinungen: Wie könnte man feststellen, welchen Farbtöne ein Gegenstand, ein Baum, ein Blatt, ein Tier, ein See, eine Wolke wirklich hat? Wir können nur den Farbton in Abhängigkeit von Art und Helligkeit der Beleuchtung, der kontrastierenden Umgebung, der Beschaffenheit der Luft, dem Zustand unseres Auges und unserer inneren Interpretation des Sinneseindrucks etc. erleben. Es gibt somit keinen objektiven Farbton (es sei denn, man versucht die Umweltbedingungen als Störfaktoren unter Laborbedingungen künstlich auszuschalten und definiert eine bestimmte Lichtstärke und -zusammensetzung). Der Farbton ergibt sich aus dem Zusammenwirken ungezählter Einflüsse, ohne die er nicht existent ist. Damit ist unser Farberleben von einer unendlichen Variation an Nuancen geprägt.
5.Die unzähligen Sinneseindrücke in jedem Moment unseres menschlichen Lebens, Geruch, Geschmack, Berührung, Hautsensationen, Hören und Sehen bilden eine unergründlich komplexe, lebenslange Komposition unseres Welterlebens. Sie wirken und bilden zusammenwirkend eine Gesamterfahrung unseres In-der-Welt-Seins und der Wahr-Nehmung des Anderen, der uns gegenübertretenden Mitwelt.
6. Ein großes Wunder ist es im Besonderen, wie aus der Vereinigung von Samen und Eizelle – man mache sich nur noch einmal die unsichtbare Winzigkeit der menschlichen Samen - und Eizelle bewusst – im nährenden Mutterleib ein Mensch mit all seinen Lebensäußerungen und Gaben entstehen kann. Die Geburt eines Kindes lässt einen dann das fundamental Ergreifende dieses Eintretens in unserer Welt erfahren.
Diese Aufzählung ist nur ein zum Scheitern verurteilter Versuch, die unendliche Fülle der Wunder der uns unmittelbar zugänglichen Welt adäquat anzudeuten.
Wunder, die durch die Wissenschaften erschlossen wurden
Die rasanten Fortschritte wissenschaftlicher Erkenntnisse haben für viele Menschen heutzutage Fragen nach dem Woher und dem Wohin allen Seins, Fragen nach dem Sinns diese unglaublichen Entwicklungen, Fragen nach einer menschlichen Bestimmung sowie danach, was das Wesen der Dinge und der Lebewesen ausmacht, als weitgehend beantwortet oder doch grundsätzlich wissenschaftlich beantwortbar gemacht. In der Betrachtung der Welt als reinem Objekt der analysierenden (sprich: auseinandernehmenden) Untersuchung ist man der Gefahr der Verdinglichung ausgesetzt, eine Kombination von erschlossenen, definierten Eigenschaften für das Ding an sich zu halten. Das, was man analysiert hat, nimmt man dann für das Ganze und vernachlässigt oder verleugnet sowohl das Nicht-Erkannte (dass der neueste Stand mit danach weiter entwickelten Methoden überholt wird, die vorgefundene Welt nie zuende erschlossen sein wird), als auch das unserem Zugriff grundsätzlich entzogene unergründliche Geheimnis allen Seins. Diese Art der Verdinglichung nennt Theodor W. Adorno ‚identifizierendes Denken‘ (Siehe der Beitrag zur Unverfügbarkeit).
Materie und Lebewesen mit chemischen und physikalischen Vorgängen hinreichend erklären und beschreiben zu wollen, wird weder den unerforschten Gründen der Chemie und Physik gerecht, noch den vielen Dimensionen der uns umgebenden und uns gegenübertretenden Welt. Das Gebäude der Wissenschaft für das Ganze zu nehmen, ist also von vorn herein reduktionistisch und allein schon deshalb unwissenschaftlich, weil jede künftige wissenschaftliche Erkenntnis eine vorangegangene als unvollständig oder falsch ablösen wird. Vielleicht hilft es, wissenschaftliches Erforschen als Sonden zu verstehen, die in die uns umgebende Welt gelegt, gesendet, getrieben werden. Und in der Tat haben diese ‚Sonden‘ Erkenntnisse heraufbefördert, die die Welt immer wundervoller erscheinen lassen und immer neue Abgründe des Nichtwissens offenlegen.
1. Nehmen wir das Wunder des Wassers: diese Molekül (H2O) ist viel leichter als zum Beispiel das Gas Kohlendioxid (CO2). Es müsste eigentlich bei den Erdtemperaturen wie CO2 nur gasförmig existieren. Da die Wassermoleküle aber aufgrund der asymmetrischen Verteilung von positiven Atomkernen und sie umgebenden negativen Elektronen einen plus- und einen minus-Pol haben, verbleiben sie bei unseren Umgebungstemperaturen durch elektrische Anziehung im flüssigen Zustand aneinander hängen. Und sie gehen sogar in einen festen Zustand über schon bei unter null Grad. Die Besonderheit dieses kleinen Moleküls ist die Voraussetzung allen Lebens, das nur im Wasser entstehen konnte und zum größten Teil aus Wasser besteht. Die Zellen aller Lebewesen umschließen mit ihren Zellwänden hauptsächlich Wasser, das ursprünglich aus dem Meer genommen worden war. Man kann das an den Blättern von Büschen und Bäumen beobachten: Die Blätter haben, bevor sie im Herbst zu Boden fallen, eine feste Gestalt und Konsistenz: trotz ihrer geringen Dicke sind die Blätter stabil formtreu und relativ rissfest. Sobald sie als Laub getrocknet sind, sind sie zerbrechlich und leichter als Federn. Die besonderen Eigenschaften des Wassers ermöglichen, es in verschiedensten Formen täglich zu erleben: als Leitungswasser, als Saft, als Quelle-Bach-Fluss-See-Meer, als Wolken, Regen, Nebel, Dunst, Luftfeuchtigkeit – kurz seine Gestalt ist unendlich vielfältig und allgegenwärtig in und um uns.
2. Oder betrachten wir das Leben im Erdreich. Laut Geo-Info (Elisabeth Böker) leben in nur einer 30 cm tiefen Schicht unter einem Quadratmeter Erde 1,6 Billionen Lebewesen, das heißt 213mal mehr als derzeit Menschen auf der Erde leben: 1,5 Billionen Mikroorganismen (Bakterien, Pilze, Algen), 1Millionen Fadenwürmer, 100.000 Milben, 50.000 Springschwänze, 25.000 Rädertiere, 10.000 Borstenwürmer, 100 Käferlarven, 100 Zweiflüglerlarven, 80 Regenwürmer, 50 Schnecken, 50 Spinnen, 50 Asseln. Das Erdreich ist voll des überbordenden Lebens, das im Zusammenwirken ermöglicht, dass darauf die Vielfalt der Pflanzen gedeihen kann, die uns und den Tieren zur Nahrung dienen und uns den lebenswichtigen Sauerstoff zum Atmen bereitstellen.
3. Auch die Welt am und im Menschen ist eine Wunderwelt. Auch wenn Bakterien gewöhnlich keinen guten Ruf haben, so ist unser menschliches Leben ohne die uns beiwohnenden Bakterien gar nicht möglich. Unsere Haut ist von einem Bakterienrasen bedeckt, den wir dringend benötigen, weil er eine unsichtbare, aber uns wie eine unentwegt aktive Abwehrtruppe vor den Angriffen von uns schädlichen Bakterien schützt, ehe diese in die Haut eindringen können. Für eine gesundheitsförderliche Hygiene ist es daher sinnvoll, diesen Schutzschild (neben der schützenden körpereigenen Haut-Einfettung) nicht durch zu häufige Einseifungen des Körpers und Behandeln der Haut mit Chemie aus Kosmetika und Detergenzien zu durchlöchern.
Erst recht gäbe es ohne die unendliche Anzahl und Vielfalt der Bakterien in uns kein Überleben. Nicht nur, dass sie bei der Aufschlüsselung der Nahrung unverzichtbare Dienste leisten und für Darmtätigkeit und Ausscheidungsfunktionen von zentraler Bedeutung sind. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse haben ergeben, das das Zusammenwirken der artenreichen Bakterienpopulation im Darm, unter dem Begriff Mikrobiom zusammengefasst, weitreichende Einflüsse auf die leibliche Gesundheit aber auch auf Seelen- und Geisteszustände hat. Schließlich hat die Genomsequenzierung noch einmal offenbart, wie eng unsere Verwandtschaftsverhältnisse zur uns umgebenden belebten Natur sind. All diese wissenschaftlich erschlossenen Tatsachen, Wunder des täglichen Lebens, können uns Menschen etwas bescheidener werden lassen: Wir sind weniger Individuen als vielmehr Wohngemeinschaften, in der man aufeinander angewiesen ist.
4. Ebenso voller Wunder ist der Blick in den Mikrokosmos, den uns die Teilchenphysik ermöglicht hat. Was wir als Dinge von fester Gestalt und Konsistenz um uns betrachten, ist auf Ebene der Atome und Elementarteilchen im wesentlichen leerer Raum, in dem Atomkerne, Elektronen, Neutronen und die anderen Kleinstteilchen den allergeringsten Platz einnehmen. Das ist kaum vorstellbar. Erst recht lösen sich die uns augenscheinlich so unverrückbar erscheinenden Dinge in unserem Lebensraum auf, wenn wir erfahren, dass Licht als Welle und als Korpuskel, Quant, zu erfassen ist. Und Einsteins Formel ‚Energie = Masse x Quadrat der Lichtgeschwindigkeit‘ weist auf Umwandlung der Masse unserer augenscheinlich festen Stoffe in Energie hin. Wenn inzwischen in der Quantenphysik Materie-Teilchen ausgemacht werden, für die Raum und Zeit nicht mehr angegeben werden können, die in Möglichkeitszuständen verharren, so kann das einen zu ehrfürchtigem Staunen veranlassen. Alltagsmaterialismus erweist sich somit als Aberglaube.
5. Der Makrokosmos, das um uns expandierende Weltall, ist ohnehin eine Weltbühne unfassbarer Dimensionen mit den Myriaden von Sternen, Galaxien, schwarzen Löchern, Gaswolken, auf die hier nur verwiesen werden soll. Für uns Laien kaum vorstellbar sind die immer weiter reichenden Vorstöße ins Weltall mit immer neuen und ausgefeilteren Beobachtungsinstrumenten der Astronomen. Das man dabei Licht, das vor Milliarden von Jahren entstanden ist, jetzt beobachten und auswerten kann, ermöglicht einem Einblicke in die Frühgeschichte unserer Welt. Inzwischen gibt es eine auf zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse gegründete Weltgeschichte, die die Entstehung des Welltalls, der Sterne, unseres Sonnensystems und der Erde sowie die Entwicklung der Lebensformen als ein Kontinuum seit dem Urknall nachzeichnet, das voller Wunder und neuer Rätsel ist.
Die alltäglichen Wunder und die durch die Wissenschaft erschlossenen, unsere Vorstellungskraft übersteigenden Wunder der allumfassenden Natur weisen auf unser völliges Eingebunden-sein in dieses unsere Horizonte weit übersteigendes Weltgeschehen. Wir als ein kleiner Teil des umfassenden Ganzen sind angehalten, unsere Bedingtheit durch alles, was vor uns war und wurde, nicht aus den Augen zu verlieren und mit den ungeheuren Werten des Vorgefundenen sorgsam und erhaltend-weiterentwickelnd umzugehen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse seit Verabschiedung vom ptolemäischen Weltbild und von einer zu konkretistisch fehlinterpretierten biblischen Schöpfungsgeschichte haben die Wunder der Welt, ihrer Entstehung und Entwicklung nicht weniger werden lassen, sondern immer weiter vermehrt. Das letzte Woher, was die unvorstellbare Energie des Urknall bewirkt hat, und das letzte Wohin des Lebens, das sich den Gesetzen der Physik, dem Gesetz der Entropie, so hartnäckig widersetzt, bleibt unergründbar. Ob nun diese Wunder dem Agnostiker eine Ehrfurcht vor der Welt, vor der Natur abverlangen, oder ob der Gläubige in Gott den Schöpfer aller Wunder und Dinge sieht, dessen Geist in allem wirkt, beide Sichtweisen und Einstellungen sind nicht weit voneinander entfernt. Gott als Schöpfer aller Dinge und als Geist in allem übersteigt in jedem Fall jedes menschliche Vorstellungsvermögen, er ist unergründbar, nicht beschreibbar. Der Gläubige hat vielleicht einen Vorteil gegenüber dem Agnostiker: Er hat eine Adresse, an die er sein bewunderndes Erstaunen, seine Freude über die Mitwelt, seine Ehrfurcht vor der Schöpfung und seine Dankbarkeit für die Teilhabe am Leben wenden kann.