Vom Wert christlicher Ethik und biblischer Erzählungen – aus der Sicht von Thomas Mann

Vorbemerkung:

Mitglied eines der beiden christlichen Kirchen zu sein, liegt derzeit nicht gerade im Trend. Die Missbrauchsenthüllungen haben eine Entwicklung nur beschleunigt, sich religiös ganz in die individuelle Sprachlosigkeit zurückzuziehen und den kirchlichen Institutionen und deren Botschaften den Rücken zu kehren. Dass es dennoch lohnend und bildend sein kann, auch in Zeiten (natur-)wissenschaftlicher Dominanz und der allgegenwärtigen Unterordnung von Leben und Natur unter Verwertungs-/Nützlichkeits- Zwecke sich mit Religion, christlicher Ethik und biblischen Erzählungen zu befassen, dafür ist Thomas Mann ein gutes Beispiel. Nicht alles was sich mit rationalem Menschenverstand schwer nachzuvollziehen lässt, muss automatisch überholt und bedeutungslos sein.

Religiosität bei Thomas Mann

Während Thomas Mann in den Buddenbrooks die fassadäre Religiosität der bürgerlichen Protagonisten des ausgehenden 19.Jahrhunderts offenlegt, die sich dem Geschäft unterzuordnen hat, ändert sich der Fokus seiner Darstellungen zur Religion spätestens mit dem 1924 veröffentlichten Roman „Der Zauberberg“. Dieser 1912 als Novelle geplant – angeregt durch den Kuraufenthalt seiner Frau in der hermetisch abgeschlossenen Sanatoriumswelt im schweizerischen Davos – , wurde während der 12 Jahre seines Entstehens – beeinflusst durch die Ereignisse des ersten Weltkriegs und der chaotischen Zustände danach – ein opus magnum, das sich mit allen existentiellen menschlichen Themen auseinandersetzt. Von großer Bedeutung und intellektueller Schärfe ist die über mehr als 450 Seiten und viele Kapitel sich hinziehende Auseinandersetzung zwischen dem der Aufklärung Kants verpflichteten, asketischen Freimaurer Settembrini und der etwas verkrachten Existenz des ehemaligen Jesuiten Naphta, die um das Heil der Welt vor den Augen und für die Ohren des Romanhelden Castorp streiten: Settembrini mit seiner Gläubigkeit an den Sieg der reinen Vernunft und dem elitären Habitus weltverbessernder geistiger Überlegenheit und Naphta, der die Uneindeutigkeit, die Zweifelhaftigkeit menschlichen Erkennens, menschliche Leiblichkeit und das ihr zu zahlende Tribut, die Bedeutung des Obskuren, Triebhaften, die Paradoxien menschlicher Existenz, und eine religiöse Geistigkeit mit der Nachsichtigkeit gegenüber der Sünde vertritt.

In dem Artikel der Zeitschrift Publik-Forum (Nr. 7, 2025) über Thomas Mann von Karl-Josef Kuschel (alle folgenden Zitate daraus in kursiv) mit dem Titel „Ungläubige Gläubigkeit“ wird Thomas Mann zum Roman ‚Der Zauberberg‘ zitiert, den er ein religiöses Buch nennt: ‚Im Zentrum stehe „das humane Problem“, „das Rätsel des Menschen als fleischlich-geistigem Doppelwesen“. Thomas Mann befindet sich in einem Suchprozess: „Glaube? Unglaube? Ich weiß kaum, was das eine und was das andere.“

Die Lektüre seiner Romane ‚Der Zauberberg‘, ‚Joseph und seine Brüder‘ und ‚Doktor Faustus‘ vermitteln unmittelbar, wie meisterlich er es versteht, die Frage der (Un-)Gläubigkeit in der Schwebe zu halten. Dabei setzt er sich mit Fragen der Religion und deren historischen Kontexte intensivst auseinander, bringt dies tiefgründig und detailreich in Betrachtungen, Dialogen und Handlungen der dargestellten Personen ein. Man erfährt dabei viel über interessante religionsgeschichtliche Zusammenhänge aus frühen Quellen alter Kulturen (so in Kapitel Höllenfahrt des ersten Josephromans). Oder man wird unterhalten durch Figuren, die als Religionsgelehrte auftreten, und dabei die absurde Logik vergangener Kirchenepochen (zum Beispiel die Rechtfertigung der Hexenverfolgungen) teuflisch- sophisticated mit atemberaubender Wortakrobatik an den Mann bringen – so in ‚Doktor Faustus‘.

Mit dem Erstarken des Faschismus in Deutschland gewinnt Thomas Mann einen neuen Zugang zur Religion. Kuschel schreibt: Ende der 1920er-Jahre entdeckt Mann, wie unlösbar Menschheits-, Kultur- und Religionsgeschichte zusammenhängen.‘ 1927 beginnt er seinen Joseph-Roman, an dem er insgesamt bis 1943 16 Jahre arbeitet. ‚Am Ende steht ein Werk von fast 2000 Seiten und ein literarisches Gespräch mit der Bibel, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht.‘ Thomas Mann stellte dieses Werk der faschistischen (Blut – und Boden-) Mythologie entgegen: „Der Mythos wurde mit diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen.“ Wie hoch er den Gehalt der biblischen Erzählungen einschätzt, lässt sich bei der lebensnahen Darstellung der Vorfahren Josephs, des ruhelosen Gottsuchers Abraham und des grüblerischen Jaakobs, erfahren wie auch bei der großartigen Ausgestaltung des – auch biblisch dargestellt– facettenreichen Lebens der Josephs selbst. Inhaltstief geraten die Dialoge zwischen Joseph und dem Pharao, der in seiner träumerischen Art sich dem jüdischen Gottesglauben über die Brücke des Sonnen-Gottes Aton annähern kann.

 

In den politischen Äußerungen jenseits seiner Romanwelt wird Thomas Mann noch deutlicher. Kuschel: ‚Von Mitte der 1930er-Jahre … tritt er kämpferisch ein für das jüdisch-christliche Ethos als Widerstands- und Orientierungskraft gegen die Verrohung des Sittlichen durch Faschismus, Rassismus und Militarismus.‘ ‚Als Zeuge moralisch verrotteter Zeiten findet er das christliche Ethos jetzt unverzichtbar, und zwar „als richtendes und die Gewissen schärfendes Korrektiv“ wider die „Schänder“ des Sittengesetzes. Als politischer Redner denkt Mann weit „religiöser“ denn als Künstler. Die Rolle des leidenschaftlichen antifaschistischen Advokaten des Christlichen behält er sich selbst vor. Keine seiner literarischen Figuren lässt er je so reden.‘ ‚Als Grundhaltung fordert er einen neuen Humanismus, der sich mit der Religiosität versöhnt: Humanität soll nicht länger ausgespielt werden gegen Religiosität, sondern durch ein religiöses Fundament vertieft und krisenresistenter gemacht werden.

Vielleicht drückt im letzten großen Roman ‚Doktor Faustus‘ der Ich-Erzähler , der es sich als Lebensaufgabe gesetzt hat, die Entwicklung seines Jugendfreundes, des genialen Komponisten und auf moderne Weise dem ‚Teufel verfallenen‘ Adrian Leverkühn, nachzuzeichnen, die Haltung Thomas Manns zur Religion recht genau aus: „Ungern würde ich es sehen, wenn man mich … für einen durchaus irreligiösen Menschen hielte. Das bin ich nicht, halte es viel mehr mit Schleiermacher, auch einem Hallenser Gotteskundigen, der die Religion als ‚den Sinn und Geschmack für das Unendliche‘ definierte und sie einen im Menschen vorhandenen ‚Tatbestand‘ nannte. Nicht mit philosophischen Sätzen also habe die Wissenschaft von der Religion es zu tun, sondern mit einem innerlich gegebenen, seelischen Faktum. Das erinnert an den ontologischen Gottesbeweis, der mir immer von allen der liebste war, und der von der subjektiven Idee eines höchsten Wesens auf dessen objektives Dasein schließt. Daß er von der Vernunft sowenig wie die anderen standhält, hat mit den energischsten Worten Kant bewiesen. Wissenschaft aber kann der Vernunft nicht entraten, und aus dem Sinn für das Unendliche und die ewigen Rätsel eine Wissenschaft machen zu wollen, heißt zwei einander grundfremde Sphären auf eine in meinen Augen unglückliche und fortwährend in Verlegenheit stürzende Weise zusammenzuzwingen. Religiosität, die ich als keineswegs meinem Herzen fremd betrachte, ist sicherlich etwas anderes, als positive und konfessionell gebundenen Religion...“ Soweit der Ich-Erzähler. Es lässt sich eine Verbindung vom Roman ‚Der Zauberberg‘ zum Doktor Faustus ziehen, wenn Thomas Mann dieser aufgeklärt-verständigen, ihm geistig naheliegende Auffassung des Ich-Erzählers die Person eines Musikers Leverkühn entgegensetzt, die die dunklen Quellen der Leiblichkeit verkörpert: die Welt der Triebe, der Sexualität, der unberechenbaren Gefühle, der Rebellion, der Kreativität und Genialität, die sich uneinnehmbar und unvereinbar der geistigen Sphäre und der reinen Vernunft entzieht. Man kann annehmen, dass darin ein Wesenszug von Thomas Mann zum Ausdruck kommt: ein gelebtes geordnetes bürgerliches Leben mit hoher Selbstdisziplin und Vergeistigung kontrastierend mit einem unangepassten, nur selten durchbrechenden leiblich-triebhaften Untergrund, dessen Wirksamkeit und Bedeutung aber stets bewusst und gegenwärtig bleibt.

Die Lektüre von Thomas Manns Romanen ist jedenfalls bildend im umfassenden Sinn: kulturell, kulturhistorisch, religionskritisch, erdgeschichtlich und vieles mehr betreffend. In dem hier genannten Zusammenhang ist der von Respekt geleitete Umgang mit Fragen der menschlichen Existenz, menschlicher Leistungen und Abgründe, die von fundierter Kenntnis getragene Einstellung zur christlichen Religion und christlichen Ethik sowie die Auseinandersetzung mit den christlichen Überlieferungen hervorzuheben. Diese aufgeklärte Haltung und kritische Einstellung, die das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, kann gerade heute richtungsweisend sein.